Vier x Zeichnung
Jürgen Kellig-Antje Pehle-Paula Schmidt- Jochen Schneider

Galerie Abakus, Berlin

      

Rede zur Ausstellungseröffnung am 18.06.2011
von Dr. Birgit Möckel

Vier x Zeichnung: Der Ausstellungstitel bringt den gemeinsamen Nenner auf den Punkt. Und er multipliziert gleichzeitig mit dem kleinen zentral gesetzten x - so beiläufig wie präzise - die für diese Ausstellung gewählten zeichnerischen Positionen zu einem Vielfachen an Möglichkeiten und Ideen, die sich mit dieser "Königsdisziplin der Bildenden Kunst" verbinden. Mit den hier präsentierten Zeichnungen von JÜRGEN KELLIG, ANTJE PEHLE, PAULA SCHMIDT und JOCHEN SCHNEIDER werden vier Positionen zweier Künstlergenerationen zusammengeführt. Alle vier nutzen die Zeichnung auf jeweils eigene Weise, um dem gewählten Format - in Einzelblättern oder Reihungen - unterschiedlichste Zeichen und Strukturen einzuschreiben und im Miteinander auszuloten. Punkte, Linien, Flächen, Räume und Zwischenräume öffnen einen unendlichen Kosmos an Ideen, die ihren Ursprung in der Natur, Gesehenem oder Erlebtem haben mögen oder - noch viel mehr und darüber hinaus - unsere Gedanken genau dahin zu führen vermögen, wenn wir uns aus nächster Nähe und / oder aus der Distanz auf diese so konzentrierten wie offenen Strukturen einlassen.

Zeichnen erfordert Konzentration und Nähe. Zeichnung ist Nähe und zeigt sich als unmittelbarer Ausdruck eines Gedankens. Im Kern einer Zeichnung gibt es nicht viel mehr als Punkt und Linie - wobei beides wiederum im Kern an die Fläche führt bzw. doch eigentlich Fläche ist oder eben ein Konzentrat all dessen. Genau in dieser Konzentration und den durch Multiplikation, Anfügung, Fortführung, Trennung, An- und Abschwellen von Linien, dem Öffnen, sich Verschließen, Hervor- und Zurücktreten von Punkten, Flächen oder linearen Gefügen liegt jenes immense Universum an Möglichkeiten, das sich zu jeder Zeit - mit unterschiedlichsten technischen Möglichkeiten - immer neu entdecken lässt.

Auf die Fläche gesetzt teilt die Linie den Grund, beschreibt eine Wegstrecke, zeigt Distanzen, um diese miteinander in Verbindung zu setzen. Ein Punkt, eine Linie definieren oder verorten Ausgangspunkt und Weg und werden auf kleinstem Raum zum "Ereignis", das mit der Leere des weißen Blattes korrespondiert. Punkte und Linien, aneinander- oder nebeneinander gesetzt, wachsen zu Strukturen, werden zu Verzweigungen oder zu Umrissen, die Flächen begrenzen oder Räume öffnen, Bewegung oder Stille evozieren oder dem Papier den Anschein von Dreidimensionalität zu verleihen vermögen.

Unterschiedlichste Techniken, Materialien, Papiere ermöglichen feinste Modulationen, Farb- und Grauabstufungen - sei es Tusche, die sich in unterschiedlichster Sättigung mit dem Papiergrund verbindet und in zarten, lichten bis zu dunkelsten Tönen changiert (Jürgen Kellig), sei es Graphit, der sich zu metallisch schimmernden Flächen verdichtet und die Materialität dieses Werkstoffes mit der vorgestellten Form verbindet (Jochen Schneider), seien es diverseste (fetthaltige) Buntstifte, die sich im fein abgestimmten Zusammenspiel mit wasserlöslicher Tusche behaupten (Antje Pehle) oder kraftvoll und prägnant gesetzte, collagierte Farbflächen, die sich mit Graphit und Buntstift so systematisch wie frei verbinden (Paula Schmidt).

An dieser Stelle ein kurzer Blick auf die einzelnen Positionen dieser Ausstellung:

PAULA SCHMIDT sei, so Jo Eckhardt, eine malende Zeichnerin und eine zeichnende Malerin. Keine Frage: die Künstlerin setzt Zeichen - sei es in Acryl auf Leinwand oder mit Graphit und Buntstift auf Papier - und "über"setzt Gedanken in zeichenhafte Strukturen, lineare "Verbindungen", "Verschlingungen" - wie zwei der hier vorgestellten Arbeiten betitelt sind. Aus einem Kern entwickeln sich Kreise und Flächen - oder kreisen die Linien um einen Kern? Aus jedem Ursprung entsteht Neues, Flächen verbinden sich mit und durch Liniengefüge. Linien finden Schnittstellen (Schnittmengen) in farbigen, nicht selten collagierten Flächen. Es sind "Wegzeichen", die, Anfang und Ziel zugleich, die lineare Bewegung aufhalten, sie auf den Punkt (oder die Fläche) bringen, um hier der Farbe ein eigenes Feld zu geben und diese nicht zuletzt - mittels der Collagetechnik - aus der Fläche in den realen Raum zu führen - und schließlich den Betrachter doch wieder "einzufangen" und mit kreuzenden, kreisenden Linienbahnen auf eine neue Spur zu führen. Fortdauernde Bewegung und Veränderung charakterisiert diese Kompositionen, gleich ob sie zu "Blattwerk", "Wasserlilien", "Kristallen" (so einige Titel) oder anderen naturhaften, so archetypischen wie umfassenden Formulierungen finden.

Ein Pulsieren der Fläche, Energie und Bewegung vermitteln sich beim Betrachten der Arbeiten von JÜRGEN KELLIG. Ausgehend von einer Idee, einer ersten freien Setzung entwickelt jedes Blatt seine eigene Dynamik, seinen Rhythmus, seine Struktur, Offenheit oder Dichte auf dem gewählten Format. Im Arbeitsprozess wird das Werk von allen Seiten betrachtet, bearbeitet, gedreht, bis es mit der so gewachsenen Struktur aus einzelnen Strichen, Linien, flächigen Punkten vor uns steht. Überlagerungen, feine Verästelungen, lose und engmaschige Vernetzungen weisen den Weg zu Mikro- und Makrostrukturen, die sich modellhaft und doch autonom zu immer neuen Reihungen und Clustern zusammenführen lassen, um gerade im Vergleich die Unterschiede und vielschichtigen Wirkungen umso deutlicher vor Augen zu führen. Wachstumsprozesse, Zellstrukturen, Natur aus größter Distanz oder nächster Nähe betrachtet, ist in jene kleinen und großen Formate eingeschrieben - gewachsen und entwickelt nicht zuletzt auch aus einem still konzentrierten Vergnügen, Spuren auf die weiße Fläche zu legen, die vereinzelt, paarweise oder geballt, Flächen definieren, öffnen oder umschließen und damit nicht zuletzt Bewegung und Zeit offenbaren - Ein freies Spiel mit einer im zeichnerischen Prozess gefundenen Struktur, die durchaus Parallelen zur Wirklichkeit aufweisen kann, wie jene Fährten, die Jürgen Kellig den "Schneehasen I und II" - so ihr Titel - zuschreibt.

Ein Zeichner per se ist JOCHEN SCHNEIDER. DIN A4 Formate prägen das Werk. Eine aktuelle Auswahl ist hier in einer facettenreichen Reihung zu sehen, unterbrochen durch sein bisher größtes Format, das den bereits erwähnten metallischen Glanz der dicht an dicht gesetzten feinen Bleistift- bzw. Graphitstriche ein intensives Gewicht verleiht. "Gesehenes, Erlebtes, Erfahrenes, Gehörtes und auch Gelesenes geben den Anstoß zu meinen Zeichnungen", so beschreibt es der Künstler. Was auf diese Weise im Gedächtnis bleibt, wird in seinen zeichnerischen Formulierungen "auf das Wesentliche reduziert und als Detail isoliert." Zu sehen sind vielschichtige Überlagerungen aus transparenten und dichten Formen, die an Blattwerk, Flügel, im weitesten Sinne an Natur erinnern mögen und in einem Moment des Wandels eingefangen sind. Gleichwohl lenkt jede Zeichnung durch ihre Schichtungen, Überlagerungen, Verschiebungen von dichten und offenen Formen weitere Metamorphosen in unser Blickfeld. So still und zart einzelne Schichten erscheinen, so kraftvoll, fast skulptural wirken ihre bildimmanenten Dialogpartner. Mit jedem Motiv wird ein neues Gleichgewicht aus divergierenden Elementen ausgelotet. Feine Liniennetze korrespondieren mit kompakten Flächen. Dunklere Flächen liegen wie lichte Schatten über skizzenhaften Umrissen, die dennoch Grenzen markieren, während die Flächen vergleichsweise frei zu fließen scheinen. Ein Sog kreisender Bewegungen zieht Linien in ein folgenreiches Dunkel oder entlädt sich auf eben diese Weise. Bewegung, Veränderung im Kleinen wie im Großen zeigt sich als subtiles Gefüge aus Überlagerungen in jedwede Richtung und löst Assoziationen an Natur im weitesten Sinne, an gesehene oder erinnerte Landschaft und Vegetation aus.

Landschaft ist auch Ausgangspunkt der Arbeiten von ANTJE PEHLE, die sie zu lichten farbigen Strukturen voller Poesie und Stille verdichtet. Aus der Natur, aus Gesehenem und Erlebten - beispielsweise einem Aufenthalt in Finnland - entstehen Abstraktionen, die Horizont, Meer, Bäume in waagerechten und senkrechten Linien und Farbbahnen einfangen und insbesondere dem Licht einer bestimmten Tages- oder Nachtzeit Geltung und Dauer verschaffen. Es sind kleinformatige leise Momentaufnahmen, die - wie bei allen hier gezeigten Werken - in der konzentrierten Nahsicht ihren Reichtum an Farb- und Formnuancen offenbaren. Mit Tusche, Bleistift und Buntstift sind hier Spuren eingefangen, die einander beeinflussen, sich gegenseitig überlagern und Farbräume, lichte und dunkle Passagen, öffnen oder verschließen und nicht zuletzt mit einzelnen Farbtupfen und Strichen an Vegetation erinnern. Was aus der Ferne wie ein feiner Schleier oder Morgendunst erscheinen mag, entpuppt sich aus nächster Nähe als fein dosiertes Miteinander aus präziser Strichführung mit bewusst eingesetzter Technik, mittels Linien, die sich vollständig verdecken, überlagern, aber eben auch abstoßen können - je nachdem, ob es sich um Buntstift oder um Tusche handelt - um damit ein Vielfaches an Zwischentönen anklingen zu lassen.

Ein vielschichtiger, leiser und nicht minder kraftvoller Dialog eröffnet sich mit diesen vier Positionen zum so archaischen wie klassischen und immer aktuellen Thema Zeichnung, dem gerade heute wieder mehr und mehr Bedeutung beigemessen wird. Mit dieser klugen und dichten Auswahl an Werken entfaltet sich eine umfassende Bandbreite und ein reiches Universum an so naturnahen wie abstrakt scheinenden Prozessen, die sich in unserem Bildgedächtnis festsetzen werden und - so wir uns einlassen - neue Spuren in unserer Wahrnehmung legen.

In diesem Sinne: viel Freude am Schauen.

Dr. Birgit Möckel